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Teaser zu den Geschichten aus
“13 Urbane Legenden -
Geschichten, basierend auf den
Sagen unserer Ahnen.”
Anthologie
SHADODEX
Verlag der Schatten
»Die Geschichte von der Feuerkutsche stammt aus dem Mittelalter, als Kölle so ein richtiges Drecksloch war. Die Leute waren arm.« Er
schob seine Sonnenbrille auf die Nase, sodass Anna sich in den Gläsern spiegelte, als er kurz zu ihr hinüber auf den Beifahrersitz sah.
»Es gab da einen Bürgermeister, und der war ’ne richtig fiese Möpp. Er besaß Ländereien vor den Toren der Stadt und schwamm im Geld,
ebte in Saus und Braus wie ein Pascha. Aber statt den Leuten etwas abzugeben, ließ er die Pflanzen lieber auf den Feldern verrotten. Er
hatte ein Herz aus Stein.« Der Fahrer verzog abfällig das Gesicht. »Der Herrgott im Himmel und sein Kollege in der Hölle sahen sich das
eine Weile an. Dann war Schluss mit lustig. Der Bürgermeister wurde mit der Kutsche geholt.«
„Die Feuerkutsche“ von Lennox Lethe
»Der Teufel kann keinen größeren Lärm verursachen.« Ungehalten schlug er bei den Worten die Decke zurück, stand auf und schritt
entschlossen auf die Tür zu.
Seine Hand hatte die Klinke noch nicht berührt, als der Laut jäh verstummte. Abwartend verharrte Paulus auf der Stelle, lauschte und …
vernahm nichts.
»Geht doch.« Er machte auf seinen nackten Füßen kehrt. Da ließ ihn ein hohes Kreischen zusammenzucken. Entsetzt fuhr er herum, riss
die morsche Kammertür auf und stürzte hinaus in den Kreuzgang.
Erhellt wurde dieser vom trüben Schein des Mondes. Eine Wolkendecke schob sich soeben davor, wodurch der Gang in absolute Finsternis
getaucht wurde. Doch Licht brauchte Paulus nicht, um die weiße Gestalt, die auf dem Brunnenrand saß, zu erkennen.
Das lange Haar bewegte sich in der windstillen Nacht. Ein Talar verhüllte den Leib, dennoch war Paulus überzeugt, eine Frau vor sich zu sehen.
Sogar die Verzweiflung konnte er auf diese Entfernung hin in ihrem Gesicht erkennen. Sie streckte eine Hand in seine Richtung aus, wies mit
dem Zeigefinger auf ihn und bewegte die Lippen.
„Die weiße Frau im Kloster“ von Monika Grasl
„Ob diese Namen Zufall sind?“ von Stefan Junghanns
Kommissar Fendrich hockte neben einer noch nicht zugedeckten Leiche. Diese war lediglich gesichert worden, damit sie nicht wieder in den
Kanal trieb. Hier in unmittelbarer Nähe des Leipziger Elsterwehres sorgten immer wieder heimtückische Strudel für ein verfrühtes Ableben
unvorsichtiger Kanuten oder, wie in diesem Fall, eines Schwimmers. Der Wonnemonat Mai war für den Toten zu Ende.
Der routinierte Ermittler seufzte. »Ein Triathlet. Das scheint wohl der Vermisste vom letzten Sonntag zu sein. Zeichen von Gewalteinwirkung?«
Ein Beamter in einem weißen Overall begutachtete die leblose Person und schüttelte dabei den Kopf.
Fendrich stand auf. »Sie müssen Ihren Kopf schon lauter schütteln. Ich hätte Sie beinahe nicht gehört.«
Der gerügte Mediziner glotzte den Kommissar an, als wisse er nicht, was dieser von ihm wolle, widmete sich aber sogleich wieder dem
Verstorbenen.
»Verzeihung. Gewalteinwirkung kann ich nicht ausschließen. Diese scheint aber auch nicht die Ursache für seinen Tod zu sein. Genaueres
kann man erst nach der Obduktion sagen.«
„Der Brunnen“ von Gordon McBane
Der Wald hinter mir ist der Pollingsrieder Forst, der aber heute nur noch Lauterbacher Wald genannt wird. Denn Pollingsried ist ein Ort, den es
so auf der Karte nicht mehr gibt, weil im 19. Jahrhundert alle Höfe und Hütten dieses verschlafenen Dorfes abgerissen und an ihrer Stelle jener
Hain aufgeforstet wurde, den ihr hinter mir sehen könnt. Diese Bäume sollen ein Geheimnis hüten. Tief im Wald auf einer Hochebene steht
noch das einzige Gebäude, das man bewusst verschont hatte. Die alte St.-Georgs-Kapelle. Sie ist der Ursprung all der dunklen Geschichten.
Dieses unscheinbare Gotteshaus wurde auf einem alten Pestfriedhof erbaut. Einmal damit die Toten ihre letzte Ruhe finden konnten und vor
allem damit die Kirche die Seuche in Schach hielt.
„Der Fluch der alten Kiefer“ von Eva Hausmann
»Wisst ihr eigentlich, was ihr hier tut?« Die alte Schneck wischte sie fahrig beiseite und tippte sich mit einem dünnen, gekrümmten Finger an die
von dunklen Altersflecken übersäte Stirn. Eine graue Strähne hing ihr über ein Auge. »Wisst ihr nicht, dass man diese Kiefer nicht fällen darf?«
Sie rauschte an ihm vorbei, als sei er gar nicht da. Ihm blieb nichts anderes übrig, als ihr hinterherzulaufen.
»Und warum nicht?« Seine Stimme klang verärgert. »Sie ist alt. Sie ist morsch. Sie ist eine Gefahr für vor allem unsere Kinder, wenn wir sie hier
steh…«
»Es wird hier keine mehr geben, wenn ihr den Baum kappt«, unterbrach sie ihn barsch. Die noch wacher als erwartet wirkenden grauen Augen
blickten ihn durchdringend an. »Die Roma-Familie, die den Baum an diesem Ort einst pflanzte, wollte sich auf Dauer hier niederlassen. Er sollte
ihre Verwurzelung darstellen.« Betonend deutete sie auf die Kiefer. »Er sollte wachsen und gedeihen. Leben, wie sie auch hier leben wollten. Als
sie vertrieben wurden, haben sie ihn deshalb verfl…«
Lautes Seufzen und die geflüsterten, aber wohl hörbaren Worte »Nicht noch eine Zigeunergeschichte!« unterbrachen die Schneck ihn ihrer Rede.
„Die Geisterkirche von Thomasbach“ von Isabell Hemmrich
Dies sind die Überreste von Thomasbach. Als die seit dem Mittelalter beurkundete Ortschaft in den 1960er-Jahren aufgelöst wurde, hat man
die verbliebenen sechs Bewohner kurzerhand umgesiedelt – gegen ihren Willen, so heißt es. Der letzte offizielle Gottesdienst in der Kirche
fand schon ein halbes Jahrhundert früher, anno 1913, statt. Doch man munkelt, dieser »verlassene Ort« sei nicht ganz so verlassen,
wie es den Anschein macht. Diverse Gerüchte ranken sich um die aufgegebene Siedlung. So verschieden die Geschichten auch sein
mögen, in einem Punkt scheint Einigkeit zu herrschen: Die ruhelosen Seelen der Vertriebenen sollen an ihre einstige Heimstatt
zurückgekehrt sein und noch heute in dem leeren Kirchenschiff umgehen. Des Weiteren erzählt man sich, die letzten sechs
Thomasbacher würden nur auf die rechte Gelegenheit warten, um dereinst ins Leben zurückzukehren …
„Die verpasste Gelegenheit“ von Andrea Lopatta
»Ich habe alles gelesen, was ich darüber gefunden habe«, entgegnete Bastian. »Es gibt von den meisten Sagen viele verschiedene Versionen,
aber vom eingemauerten Burgfräulein habe ich nur die eine gefunden: Sie soll die Tochter des Burgherrn gewesen sein und sich mit einem
Untergebenen eingelassen haben. Es heißt, sie sei lebendig eingemauert worden und hätte von einem schmalen Fenster aus zum
sogenannten Kalten Baum bei Vohenstrauß schauen können, an dem ihr Liebhaber erhängt worden war. Seitdem soll um den Baum immer
ein eiskalter Wind wehen. Das habe ich gestern bei einer Besichtigung sogar selbst erleben dürfen.«
Der Bürgermeister nickte anerkennend. »Das ist die gängige Geschichte. Aber die einzige Version ist es nicht. Nach einer anderen ist die
junge Dame nämlich abgehauen und ihr Vater hat sie just an diesem Kalten Baum eingeholt und mit eigener Hand dort hingerichtet. Daher
haben wir zwar eine schöne Ecke in der Burg, aber ob wirklich eine Auflösung der Geschichte auf uns wartet, ist alles andere als sicher.«
„Das Eisenmännchen“ von Judith Molitor
»… eines Tages aber gab es ein fürchterliches Gewitter, und danach ging ein Mann hoch zum Jakobsknopp. Da lag der Bucklige vor ihm
auf dem Weg und war ganz versengt, wie verbrannt, mit verkrümmten Händen. Er war vom Blitz erschlagen worden. Der Mann erschrak sehr
und lief nach Mürlenbach zurück, um Leute zu holen, dass sie den Toten begraben sollten. Als sie abends wieder an die Stelle kamen, war
aber von dem nichts mehr zu sehen. Er war verschwunden. Wo er gelegen hatte, da schwirrte ein Irrlicht durch den Dunst, und man hörte
ein Klappern wie von Metallstücken. Der böse Wucherer war in ein Eisenmännchen verwandelt worden, und bis zum heutigen Tag geht
er da oben um.«
„Blutacker“ von Alexander Klymchuk
»Da wäre zum Beispiel der Umstand, dass sich in etwa zur selben Zeit, als die Gerüchte über die verbotenen Liebschaften aufkamen, ein Trend
zu etablieren schien. Und wenn ich sage Trend, dann spreche ich von Freitoden, die sich in beunruhigender Regelmäßigkeit zu wiederholen
scheinen, wenn man davon ausgeht, dass es da eine Dunkelziffer gibt von nicht entdeckten, fehlerhaft gedeuteten oder schlicht unter den
Teppich gekehrten Todesfällen.«
»Wollen Sie etwa andeuten, dass …«
»Ich will gar nichts andeuten, Mutter Oberin. Und wie Sie bereits sagten, ist die ganze Sache eine Tragödie und für alle Beteiligten eine traurige
Angelegenheit. Da ist jemand aus dem Leben geschieden, hat sich selbst vernichtet und seiner eigenen und jeder gemeinsamen Zukunft
beraubt. Irreversibel. Unumkehrbar.«
Die Priorin sagte nichts, sondern blickte aus dem Fenster, als würde sie mit sich ringen. Nieselregen hatte eingesetzt und besetzte die in Blei
eingefassten Rauten der Fensterscheiben.
»Es sei denn natürlich, jemand hat nachgeholfen.«
„Blutrotes Glas“ von Eve Grass
Als die Zwillinge ihren elften Geburtstag feierten, verkündeten sie mir stolz, dass sie fortan andere Vornamen tragen würden. Aus Inge wurde
Dora. Wenn sie ihren Namen benutzte, klang es gar nach Dura oder gar Tura. Die kleine Luise wollte Annerl genannt werden. Aus ihrem süßen,
roten Mund klang das wie Anderl. Auf meine Frage nach dem Warum erhielt ich die Antwort, die mir zu jener Zeit Schauder über den Rücken
jagte: »Papa hätte das so gewollt!«
Weder Luise noch Inge kannten ihren Vater. Ich habe den beiden erzählt, er sei nach Amerika ausgewandert und ich hätte niemals
mehr von ihm gehört. In Wahrheit hatte ich keine Ahnung, wohin der Glasbläser nach unserer einzigen, alkoholgeschwängerten Nacht
entschwunden ist. Eigentlich möchte ich gar nicht mehr daran denken, aber ich muss die Geschichte in allen Einzelheiten erzählen:
„Die Prinzipien der Annalena Sperber“ von Dennis Puplicks
»Tatsächlich erinnert mich die dargestellte Szene an eine alte Sage, die ich noch aus meiner Kindheit kenne«, entgegnete er.
Annalena Sperber stand auf und ging zu dem Sekretär hinüber, drehte sich zum Kupferbild und strich mit den Fingern über die detailreiche
Arbeit, die zwei junge Leute auf einem Feld zeigte. Ein Mädchen lag mit ihrem Gesicht auf dem Erdboden, die Augen noch zusätzlich hinter den
Händen verborgen, während ein junger Mann einen Gürtel in die Luft hielt, umzingelt von kleinen gehörnten Gestalten, die ihm nur fast bis zu
den Knien reichten.
»Wundervoll, nicht wahr?«
»Ja, ich entsinne mich daran, wie meine Großmutter mir die Sage vom Teufelsacker erzählte. Doch jeder kennt solche Geschichten in einer
leicht abweichenden Version. Welche ist die Ihre, Frau Sperber?«
„Der Pfuhl“ von Silke Katharina Weiler
»Der Jägerpfuhl«, las er. Es folgten einige geoökologische Details, die ihn nicht sonderlich interessierten. Nur an der Sage vom Jägerpfuhl
blieb er kurz hängen, vermutlich wegen der Bücher im Arbeitszimmer des Großvaters. Danach sollte an dieser Stelle das Haus eines grau-
samen Jägers gestanden haben, der eines Tages einen Hasen verfolgte, den er partout nicht erwischte. Erzürnt über sein Pech habe er gerufen,
sein Haus möge verflucht sein und in der Erde versinken, sollte er erneut danebenschießen. Und so kam es auch. Der Jäger verfehlte den Hasen,
die Erde tat sich auf und verschluckte ihn mitsamt Haus und Gehilfen. Der Zusatz, dass der Jäger noch heute an diesem Ort sein Unwesen
treiben würde, überraschte Felix nicht.
„Das Eisstockschießen“ von Doris E. M. Bulenda
Plötzlich erwachte die Großmutter aus ihrem Halbschlaf und richtete sich auf. »Aber dass ihr beim Abendläuten wieder z’ruck seid’s! Wenn
da Pfarrer zur Nacht läut’, dann müsst’s heimgeh’n. Nach dem Abendläuten derf keiner mehr draußen sei.«
Die ganze Familie seufzte gleichzeitig auf. Jetzt kam wieder eine der Gespenstergeschichten der Großmutter, die sie alle schon mehrfach
gehört hatten. Aber es gab keinen Weg, die alte Frau zu stoppen, wie sie wussten. Sie würden einfach zuhören und warten, bis sie fertig war.
»Damals, ois i noch a jungs Madl war, san drei Burschen aus dem Ort zum Eisstockschieß’n ganga. Vor lauter Freid hams de Zeit vergess’n.
Und dann is a Fremda kemma, der hat mitspuin woll’n. Mit dem ham’s gspuit, so lang, dass sogar des Abendläuten ned g’hört ham. Oder ned
ham hören woll’n. Der Fremde, der hat den Burschen Geld ge’m, wenn’s no weiter mit ihm spuin. So hat er g’sagt. Aber dann hat einer von de
drei genau hing’schaut und hat an Huf g’sehn, da wo a Mensch an Fuß hat. Da ham’s g’wusst, mit wem sie gspuit ham. Mit dem Deifi! Mei,
da sann’s g’rannt, de drei. In de Kirch sann’s g’rannt, grad no ham se’s g’schafft. Da hat’s da Vater dann abg’holt … Danach warn’s nimmer
dieselben … I hab de drei no kannt, de war’n nachher so gläubig wie no was.«
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